RECHTSSACHE CHASSAGNOU UND ANDERE GEGEN FRANKREICH

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

Pressemitteilung des Kanzlers
Nichtamtliche Übersetzung

RECHTSSACHE CHASSAGNOU UND ANDERE GEGEN FRANKREICH

242
29.4.1999
In der Rechtssache Chassagnou und andere gegen Frankreich hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit einem am 29. April 1999 in Straßburg verkündeten Urteil entschieden, dass Artikel 1 (Schutz des Eigentums) des Protokolls Nr. 1 zur Europäischen Menschenrechtskonvention und Artikel 11 (Vereinigungsfreiheit) der Konvention für sich genommen verletzt worden sind (zwölf gegen fünf Stimmen), dass ferner Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 in Verbindung mit Artikel 14 (Diskriminierungsverbot) verletzt worden ist (vierzehn gegen drei Stimmen), dass Artikel 11 in Verbindung mit Artikel 14 der Konvention verletzt worden ist (sechzehn gegen eine Stimme) und dass der auf Artikel 9 (Gedanken- und Gewissensfreiheit) gegründete Beschwerdepunkt nicht gesondert geprüft zu werden braucht (ebenfalls sechszehn gegen eine Stimme). Nach Artikel 41 der Konvention hat der Gerichtshof jedem der Beschwerdeführer einen bestimmten Geldbetrag als Entschädigung für den erlittenen immateriellen Schaden zugesprochen.

1. Sachverhalt
Bei der Rechtssache geht es um drei Beschwerden, die ursprünglich von zehn französischen Staatsangehörigen eingereicht worden waren, nämlich von Marie-Jeanne CHASSAGNOU, René PETIT, Simone LASGREZAS, Léon DUMONT, Pierre und André GALLAND, Edouard (verstorben) und Michel PETIT, Michel PINON und Joséphine MONTION, geboren 1924, 1936, 1927, 1924, 1926, 1936, 1910, 1947, 1947 bzw. 1940. Frau Chassagnou, Herr René Petit et Frau Lasgrezas haben ihren Wohnsitz in den Gemeinden Tourtoirac und Chourgnac d'Ans im Departement Dordogne, wo sie als Landwirte tätig sind. Herr Dumont, Herr Galland, Herr Michel Petit und Herr Pinon, die gleichfalls Landwirte sind, haben ihren Wohnsitz auf dem Gebiet der Gemeinden La Cellette und Genouillac im Departement Creuse. Frau Montion wohnt in Salleboeuf im Departement Gironde, wo sie als Sekretärin arbeitet.
Alle Beschwerdeführer sind Eigentümer von Grundstücken, deren zusammenhängende Fläche im Falle der in den Departements Dordogne und Gironde lebenden Beschwerdeführer jeweils weniger als 20 Hektar und im Falle der im Departement Creuse lebenden weniger als 60 Hektar beträgt. Nach dem Gesetz vom 10. Juli 1964, dem sogenannten Verdeille-Gesetz (,,Loi Verdeille") über die Einrichtung kommunaler Jagdvereinigungen (ACCA) mussten alle Beschwerdeführer, obgleich sie Jagdgegner sind, der in ihrer Gemeinde eingerichteten ACCA beitreten und dieser das Jagdrecht auf ihrem Grund übertragen, damit alle Jäger der Gemeinde dort jagen können. Sie hätten dieser Zwangsmitgliedschaft und der zwangsweisen Abtretung des Jagdrechts auf ihrem Grund nur entgehen können, wenn die Fläche ihres Grundeigentums eine bestimmte, je nach Departement unterschiedliche Größe überschritten hätte (20 Hektar in den Departements Dordogne und Gironde, 60 Hektar im Departement Creuse). Die Beschwerdeführer riefen die französischen Gerichte an, um zu erreichen, dass ihre Grundstücke aus dem Jagdbezirk der ACCA ihrer Gemeinden herausgenommen werden, doch wurden ihre Klagen von den Zivil- wie den Verwaltungsgerichten abgewiesen. Die letzten einschlägigen Entscheidungen waren das Urteil des Kassationsgerichts vom 16. März 1994 (Rechtssache Chassagnou, R. Petit und Lasgrezas) und die Urteile des obersten Verwaltungsgerichts (Conseil d'État) vom 10. März 1995 (Rechtssache Dumont u.a.) bzw. vom 10. Mai 1995 (Rechtssache Montion).

2. Verfahren und Zusammensetzung des Gerichtshofs
Die Beschwerden von Chassagnou, Petit und Lasgrezas wurden am 20. April 1994, die von Dumont und anderen am 29. April 1995 und die Beschwerde von Montion am 30. Juni 1995 bei der Europäischen Kommission für Menschenrechte eingereicht. Die Kommission hat die Beschwerden für zulässig befunden und am 30. Oktober 1997 bzw. am 4. Dezember 1997 drei Berichte angenommen, in denen sie mehrheitlich zu dem Schluss gelangt, dass Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 und Artikel 11 für sich genommen sowie Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 1 des Protokolls und mit Artikel 11 der Konvention verletzt worden sind. Die Kommission war ferner mehrheitlich der Auffassung, dass sich in Bezug auf Artikel 9 der Konvention keine gesonderte Frage stellt. Sie hat die Rechtssache Chassagnou u.a. am 15. Dezember 1997 und die beiden anderen Rechtssachen (Dumont u.a. sowie Montion) am 16. März 1998 an den Gerichtshof verwiesen.
Das Urteil wurde dann von einer Großen Kammer gefällt, die sich aus folgenden 17 Richtern zusammensetzte:

Luzius Wildhaber (Schweiz), Präsident,
Elisabeth Palm (Schweden),
Lucius Caflisch (Schweiz),
Jerzy Makarczyk (Polen),
Pranas Kuris (Litauen),
Jean-Paul Costa (Frankreich),
Willi Fuhrmann (Österreich),
Karel Jungwiert (Tschechische Republik),
Marc Fischbach (Luxemburg),
Bo_tjan Zupan i (Slowenien),
Nina Vaji (Kroatien),
Wilhelmina Thomassen (Niederlande),
Margarita Tsatsa-Nikolovska (ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien),
Tudor Pan ru (Moldau),
András Baka (Ungarn),
Egils Levits (Lettland),
Kristaq Traja (Albanien), Richter,
und Maud de Boer-Buquicchio, stellvertretende Kanzlerin.

3. Zusammenfassung des Urteils

Beschwerdepunkte
Die Beschwerdeführer brachten vor, dass die zwangsweise Einbeziehung ihrer Grundstücke in den Jagdbezirk der jeweiligen ACCA und die Zwangsmitgliedschaft in einer Vereinigung, deren Ziele sie ablehnen, ihr Eigentumsrecht, ihr Recht auf Vereinigungsfreiheit und ihr Recht auf Gedanken- und Gewissensfreiheit im Sinne von Artikel 1 des Protokolls Nr. 1, Artikel 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention bzw. Artikel 9 der Konvention verletzten. Außerdem rügten sie, dass eine Diskriminierung unter Verstoß gegen Artikel 14 der Konvention vorliege.


Entscheidung des Gerichtshofs

Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 im Hinblick auf die Verletzung des Eigentumsrechts der Beschwerdeführer
Der Gerichtshof nimmt zur Kenntnis, dass die Beschwerdeführer nicht auf ihrem Grund jagen wollen und auch nicht wollen, dass Dritte ihren Grund betreten, um dort zu jagen. Obgleich sie die Jagd aus ethischen Erwägungen ablehnen, müssen sie jedes Jahr die Gegenwart bewaffneter Menschen und von Jagdhunden auf ihren Grundstücken hinnehmen. Diese Einschränkung der freien Nutzung ihres Eigentums stellt fraglos einen Eingriff in die Ausübung der Eigentumsrechte der Beschwerdeführer dar. Der Gerichtshof befindet, dass dieser Eingriff seinem Zweck nach, ein ungeregeltes Jagen zu vermeiden und eine sinnvolle Bewirtschaftung der Wildbestände zu fördern, unzweifelhaft dem Allgemeininteresse dient.
Der Gerichtshof stellt fest, dass keine der von der Regierung angeführten Möglichkeiten (Einzäunung der Grundstücke oder Antrag auf Einstufung der Grundstücke als Jagdschutz- oder Naturschutzgebiet) es den Beschwerdeführern in der Praxis erlaubt hätte, der rechtlichen Verpflichtung zur Abtretung der Jagdrechte auf ihrem Grund an die ACCA zu entgehen, und er gelangt zu dem Schluss, dass die von der Regierung genannten rechtlichen Ausgleichsregelungen nicht als eine hinreichende Entschädigung für den Verlust des Nutzungsrechts angesehen werden können. Der Entzug des ausschließlichen Jagdrechts des Eigentümers auf seinem Grund soll nach dem Verdeille-Gesetz von 1964 dadurch ausgeglichen werden, dass der betroffene Grundeigentümer im Gegenzug das Recht erhält, im gesamten Gebiet der jeweiligen kommunalen Jagdvereinigung zu jagen. Ein solcher Ausgleich ist jedoch nur wirksam und sinnvoll, wenn die betroffenen Grundeigentümer selbst jagen oder die Jagd zumindest befürworten. Das Gesetz von 1964 sieht indes keinerlei Ausgleich für Grundeigentümer vor, die Jagdgegner sind und daher auch keinen Vorteil oder Gewinn aus dem Jagdrecht ziehen wollen, dessen Ausübung sie ablehnen.
Der Gerichtshof stellt fest, dass die zwangsweise Abtretung des Jagdrechts, das im französischen Recht zum Eigentumsrecht gehört, eine Abweichung von dem in Artikel L. 222-1 des französischen Land- und Forstwirtschaftsgesetzbuches niedergelegten Grundsatz bedeutet, wonach niemand auf fremden Grund ohne Zustimmung des Eigentümers jagen darf. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass nach der Verabschiedung des Verdeille-Gesetzes im Jahr 1964, von dem die Departements Bas-Rhin, Haut-Rhin und Moselle von Anfang an ausgenommen waren, lediglich 29 von den 93 betroffenen Departements im französischen Mutterland verpflichtet waren, kommunale Jagdvereinigungen (ACCA) einzurichten, dass nur 851 Gemeinden auf freiwilliger Basis solche Jagdvereinigungen eingerichtet haben und dass das Gesetz nur für die Eigentümer kleiner Grundstücke, nicht aber für private Großgrundbesitzer und für staatlichen Grundbesitz gilt.
Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass die mit der Verabschiedung des Gesetzes von 1964 verfolgten Ziele damals zwar legitim waren, das darin vorgesehene System der Zwangsabtretung des Jagdrechts aber für die Beschwerdeführer eine Situation herbeiführt, in der kein angemessener Ausgleich zwischen dem Schutz des Eigentumsrechts und den Erfordernissen des Allgemeininteresses mehr gegeben ist. Werden nämlich Eigentümer kleiner Grundstücke gezwungen, ihr Jagdrecht auf ihrem Grund abzutreten, damit Dritte von diesem Recht in einer Weise Gebrauch machen können, die den Überzeugungen der Eigentümer völlig zuwiderläuft, so stellt dies eine unverhältnismäßige Last dar, die unter dem Blickwinkel von Artikel 1 Unterabsatz 2 des Protokolls Nr. 1 nicht gerechtfertigt ist. Diese Bestimmung ist demnach verletzt worden.

Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 in Verbindung mit Artikel 14 der Konvention
Der Gerichtshof nimmt zur Kenntnis, dass der beklagte Staat die unterschiedliche Behandlung von Eigentümern kleiner Grundstücke und von Großgrundbesitzern damit zu rechtfertigen sucht, dass der Zusammenschluss der kleinen Flächen im Interesse einer vernünftigen Bewirtschaftung der Wildbestände erforderlich sei. Nach Ansicht des Gerichtshof hat die beklagte Regierung im vorliegenden Fall nicht überzeugend dargelegt, inwiefern es dem Allgemeininteresse dient, wenn lediglich Eigentümer kleiner Grundstücke gezwungen werden, ihr Jagdrecht auf ihrem Grund abzutreten. Die unterschiedliche Behandlung von Eigentümern großer und kleiner Grundstücke hat zur Folge, dass nur erstere über ihren Grund so verfügen können, wie es ihnen ihr Gewissen gebietet; sie stellt daher eine Diskriminierung wegen des Vermögens im Sinne des Artikels 14 der Konvention dar. Folglich liegt ein Verstoß gegen Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 in Verbindung mit Artikel 14 der Konvention vor.

Artikel 11 (Vereinigungsfreiheit) der Konvention für sich genommen
Der Begriff ,,Vereinigung" besitzt nach Ansicht des Gerichtshofs eine eigenständige Bedeutung; seine Einordnung im Rahmen des innerstaatlichen Rechts ist nur von relativem Wert und bildet nicht mehr als einen Ausgangspunkt.
Die ACCA wurden zwar durch den Willen des Gesetzgebers ins Leben gerufen, nichtsdestoweniger handelt es sich dabei, wie der Gerichtshof festhält, um gemäß dem Gesetz vom 1. Juli 1901 gegründete Vereinigungen. Außerdem lässt sich nicht behaupten, dass die ACCA aufgrund des Verdeille-Gesetzes vom Zivilrecht abweichende administrative, normative oder disziplinarische Vorrechte besäßen oder Verfahren der öffentlichen Gewalt anwendeten. Demnach sind die ACCA nach Auffassung des Gerichtshofs durchaus ,,Vereinigungen" im Sinne des Artikels 11.
Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass der Eingriff in die ,,negative" Vereinigungsfreiheit, d. h. in das Recht, sich nicht gegen seinen Willen einer Vereinigung anschließen zu müssen, im hier verhandelten Fall gesetzlich vorgesehen war und einem legitimen Zweck diente, nämlich dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Die Regierung hat in diesem Zusammenhang geltend gemacht, dass ein demokratischer Zugang zur Jagd sichergestellt bzw. gefördert werden müsse. Selbst wenn das französische Recht ein ,,Recht" zu jagen oder die ,,Freiheit" zu jagen einschließen sollte, zählt ein solches Recht oder eine solche Freiheit dem Gerichtshof zufolge nicht zu den in der Konvention verankerten Rechten und Freiheiten; die Vereinigungsfreiheit hingegen wird durch die Konvention ausdrücklich gewährleistet.
Zu der Frage, ob der Eingriff in einem angemessenen Verhältnis zu dem legitimen angestrebten Ziel stand, bemerkt der Gerichtshof, dass die Beschwerdeführer aus ethischen Gründen die Jagd ablehnen und dass ihre diesbezüglichen Überzeugungen ein bestimmtes Maß an Schlüssigkeit, Kohärenz und Nachdruck aufweisen und somit in einer demokratischen Gesellschaft Achtung verdienen. Demnach befindet der Gerichtshof, dass es auf den ersten Blick mit Artikel 11 unvereinbar erscheinen kann, wenn Jagdgegner zur Mitgliedschaft in einer Jagdvereinigung gezwungen werden.
Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerdeführer keine zumutbare Möglichkeit hatten, dieser Mitgliedschaft zu entgehen. Liegen ihre Grundstücke im Jagdbezirk einer ACCA und sind sie nicht groß genug, um einen Einspruch zu erlauben, so besteht die Pflicht zur Mitgliedschaft. Der Gerichtshof nimmt des Weiteren zur Kenntnis, dass das Grundeigentum des Staates, der Departements und der Gemeinden, Staatsforste und der der französischen Eisenbahn gehörende Grund ausdrücklich vom Geltungsbereich des Gesetzes ausgenommen sind. Mit anderen Worten: Das Erfordernis, Grundstücke für die Jagd zusammenzulegen, gilt nur für eine beschränkte Zahl von Privateigentümern, wobei überdies deren Ansichten in keiner Weise Rechnung getragen wird.
Angesichts dessen reichen die von der Regierung vorgetragenen Gründe nicht aus, um nachzuweisen, dass es notwendig war, die Beschwerdeführer entgegen ihrer persönlichen Überzeugung zur Mitgliedschaft in den ACCA ihrer Gemeinden zu zwingen. Was die Notwendigkeit betrifft, die Rechte und Freiheiten anderer mit Blick auf einen demokratischen Zugang zur Jagd zu schützen, so steht eine Zwangsmitgliedschaft in den ACCA, die nur für die Grundeigentümer in einer von vier Gemeinden in Frankreich gilt, in keinem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Ziel. Der Gerichtshof kann auch nicht erkennen, warum lediglich die kleinen Grundstücke zusammengelegt werden müssten, während für die großen Grundstücke in öffentlichem wie privatem Besitz das Gebot eines demokratischen Zugangs zur Jagd nicht gälte.
Wenn jemand gesetzlich dazu verpflichtet wird, einer Vereinigung beizutreten, deren Zweck seinen Überzeugungen zutiefst widerspricht, und aufgrund dieses Beitritts das Verfügungsrecht über sein Grundeigentum abtreten muss, damit die Vereinigung darauf Zielen nachgehen kann, die er missbilligt, so geht dies über das hinaus, was zur Herstellung eines angemessenen Ausgleichs zwischen widerstreitenden Interessen erforderlich ist, und steht in keinem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel. Es liegt somit eine Verletzung des Artikels 11 vor.

Artikel 11 in Verbindung mit Artikel 14 der Konvention
Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass die rechtliche Prüfung, wie sie in Bezug auf Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 vorgenommen wurde, im Wesentlichen analog auch für den auf Artikel 11 in Verbindung mit Artikel 14 gegründeten Beschwerdepunkt gilt, und er sieht daher keinen Grund, von seiner vorherigen Schlussfolgerung abzuweichen. Nach Ansicht des Gerichtshofs hat die beklagte Regierung keine sachliche und vernünftige Rechtfertigung für die unterschiedliche Behandlung vorgebracht, mit der Kleingrundbesitzern die Verpflichtung zur Mitgliedschaft in den ACCA auferlegt wird, während es Großgrundbesitzern ermöglicht wird, dieser Zwangsmitgliedschaft zu entgehen, sei es, um ihr ausschließliches Jagdrecht auf ihrem Grund wahrzunehmen, oder sei es, um ihren Grund zu einem Wild- oder Naturschutzgebiet zu machen, wenn sie dies wegen ihrer Überzeugungen vorziehen. Es liegt also ein Verstoß gegen Artikel 11 in Verbindung mit Artikel 14 der Konvention vor.

Artikel 9 der Konvention

In Anbetracht der Ergebnisse, zu denen er in der Frage der Verletzung des Artikels 1 des Protokolls Nr. 1 und des Artikels 11 sowohl für sich genommen wie in Verbindung mit Artikel 14 der Konvention gelangt ist, hält es der Gerichtshof nicht für erforderlich, den Fall noch gesondert unter dem Blickwinkel des Artikels 9 der Konvention zu prüfen.

Artikel 41 der Konvention
Der Gerichtshof nimmt zur Kenntnis, dass die Beschwerdeführer für die Deckung ihrer Kosten und Auslagen keine Ansprüche geltend gemacht haben, da ihre Vertretung vor den Konventionsorganen für sie kostenfrei war, und er weist ihre Ansprüche auf Entschädigung für den behaupteten materiellen Schaden mangels entsprechender Nachweise zurück. Aus Billigkeitserwägungen spricht er ihnen indes jeweils 30000 französische Franken als Entschädigung für den erlittenen immateriellen Schaden zu.
Mehrere Richter haben eine abweichende Meinung zum Ausdruck gebracht.
Die Urteile des Gerichtshofs sind ab dem Tag der Urteilsverkündung über die Website des Gerichtshofs (www.echr.coe.int) abrufbar.
Nach der Verfahrensordnung des Gerichtshofs obliegt es dem Kanzler, Auskunft auf Anfragen über die Tätigkeit des Gerichtshofs und inbesondere auf Presseanfragen zu erteilen, soweit dies mit der ihm durch sein Amt auferlegten Schweigepflicht vereinbar ist.

Kanzler des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
F - 67075 Strasbourg Cedex
Kontakt: Roderick Liddell
Telefon: +33 (0)3 88 41 24 92; Fax: +33 (0)3 88 41 27 91

Rechtliche Grundlagen

Urteil BVerwG 11.11.2021

Warum das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts so wichtig für Grundstückseigentümer ist:

Immer wieder werden Anträge von Tierfreunden zur jagdrechtlichen Befriedung ihrer Grundstücke abgewiesen, weil die ethischen Gründe angeblich nicht ausreichend seien. Muss ein Grundstückseigentümer zwingend Vegetarier oder Veganer sein, um das Töten von wild lebenden Tieren auf seinem eigenen Grundstück aus ethischen Gründen abzulehnen? Ist die Tatsache, dass ein Grundstückseigentümer eine Wiese an einen Bauern verpachtet hat, der darauf Rinder hält, die später geschlachtet werden, ein Grund für die Ablehnung einer Befriedung aus ethischen Gründen?

Das Bundesverwaltungsgericht Leipzig hat seinem Urteil vom 11.11.2021 richtungsweisende Leitsätze zur jagdrechtlichen Befriedung von Grundflächen aus ethischen Gründen vorangestellt (BVerwG 3C 16.20 und BVerwG 3C 17.20).

Urteil VGH München 28.05.2020

Laut § 6a Bundesjagdgesetz (BJagdG) dürfen nur natürliche Personen das Ruhen der Jagd beantragen. In den Erläuterungen heißt es dazu: Antragsberechtigt sind nur natürliche Personen, da die Ablehnung der Jagd aus ethischen Gründen Ausdruck einer persönliche Überzeugung und Gewissensentscheidung ist. Daher entfällt eine Befriedung bei juristischen Personen . Im Klartext: Tier- und Naturschutzvereine oder Stiftungen konnten bisher das Ruhen der Jagd auf ihren Flächen nicht beantragen. Doch dies ist mit dem entscheidenden Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 26.6.2012 und der Europäischen Menschenrechtskonvention (Schutz des Eigentums) nicht vereinbar.

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof München macht in seinem grundlegenden Urteil vom 28.05.2020 Erklärung von Grundstücken zu jagdrechtlich befriedeten Bezirken die Antragstellung auch für juristische Personen wie Vereine, Stiftungen oder GmbHs möglich. (VGH München, 19 B 19.1713 und 19 B 19.1715)

Beschluss BayVGH 30.1.2013

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) hat mit Beschluss vom 30.01.2013, der unanfechtbar ist, in einem Eilverfahren entschieden, dass auf dem Grundstück eines ethischen Jagdgegners ab dem 1. April 2013 vorläufig nicht mehr gejagt werden darf. Mit diesem Beschluss, den der Bayerische Verwaltungsgerichtshof ausführlich begründete, hat der erkennende Senat Rechtsgeschichte geschrieben. Zum ersten Mal seit Bestehen des Bundesjagdgesetzes gelingt es einem ethischen Jagdgegner, sein der generellen Jagdpflicht unterliegendes Grundstück gegen den Willen der Behörden jagdfrei zu stellen.

Entscheidung EGMR 2013

Erneute Entscheidung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen Zwangsbejagung in Deutschland Die Zwangsbejagung von Grundstücken einer Familie veganer Jagd-Gegner verstößt gegen die Europäische Konvention für Menschenrechte (EKMR). Dies entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg am 15.11.2013 in der Sache Scholvien et al gegen die Bundesrepublik Deutschland. Die vegane Familie hatte gegen die Ablehnung ihrer sich gegen die Zwangsbejagung, insbesondere die Errichtung eines Hochsitzes auf ihrem Grundstück, richtenden Klage durch die nationalen Gerichte bereits im Jahr 2008 Beschwerde beim EGMR eingereicht.

Urteil EGMR 2012

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 26.6.2012 das Urteil im Fall “Herrmann gegen die Bundesrepublik Deutschland” verkündet. In seinem Urteil der Großen Kammer (Beschwerdenummer 9300/07), das rechtskräftig ist, stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte heute mit einer Mehrheit der Stimmen eine Verletzung von Artikel 1 Protokoll Nr. 1 (Schutz des Eigentums) zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) fest.

Gesetzesänderung § 6a Bundesjagdgesetz: Massiver Einfluss der Jagdlobby

Am 6.6.2013 wurde das "Gesetz zur Änderung jagdrechtlicher Vorschriften" im Bundesgesetzblatt veröffentlicht und wird sechs Monate später, am 6.12.2013 in Kraft treten. Schon beim ersten Gesetzesentwurf aus dem Aigner-Ministerium war klar: Man muss gar nicht mal zwischen den Zeilen lesen, um festzustellen, dass die Gesetzesänderung die Handschrift der jagenden Lobby trägt - und das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ganz massiv torpediert.

Stellungnahme Änderung Bundesjagdgesetz

Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz hat in einer öffentlichen Anhörung am Mittwoch, 20. Februar 2013 über die Änderung des Bundesjagdgesetzes beraten. Nachdem uns die Möglichkeit eingeräumt wurde, eine schriftliche Stellungnahme für diese Anhörung abzugeben, haben wir natürlich gerne davon Gebrauch gemacht. Lesen Sie unsere Stellungnahme an den Ausschuss, die wir auch an alle Bundestagsabgeordneten sowie alle Bundesratsmitglieder sowie die zuständigen Landesministerien geschickt haben.

Urteil EGMR 2007

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat am 29. April 1999 (25088/94, 28331/95, 28443/95 - Chassagnou u.a. ./. Frankreich, NJW 1999, S. 3695) in einem an Frankreich gerichteten Urteil festgestellt, dass die Zwangsmitgliedschaft von Grundeigentümern in Jagdvereinigungen gegen die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) verstößt. Die deutschen Behörden und Gerichte, vor allem das Bundesverfassungsgericht, reden diese richtungsweisende Grundsatzentscheidung des höchsten europäischen Spruchkörpers mit fadenscheinigen Argumenten klein. Rechtlich gesehen sind diese jedoch nicht mehr länger haltbar, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nach 1999 in diesem Jahr erneut entschieden hat, dass es Eigentümern kleinerer Grundstücke in einer demokratischen Gesellschaft nicht zugemutet werden kann, die Hobbyjagd auf ihren Grundstücken gegen ihren Willen zu dulden (Urteil vom 10.07.2007 – Gesuch 2113/04 - Schneider ./. Luxemburg).

Tierschutz im Grundgesetz und die Jagd

Seit der Ergänzung des Artikels 20a GG im Jahre 2002 hat der Staat nicht nur die „natürlichen Lebensgrundlagen“ zu schützen, sondern auch „die Tiere“. Dieses Staatsziel beinhaltet auch den Schutz vor unnötiger Schmerzzufügung und Tötung. Das hat Auswirkungen auf die Formen und den Umfang der herkömmlichen Jagd. Soweit sie als Sport- und Freizeitvergnügen betrieben wird, ist sie nicht mehr aufrechtzuerhalten. Soweit sie aus ökologischen Gründen erfolgt, müssen diese zwingend sein. Aus der veränderten Verfassungslage ergeben sich weitreichende Konsequenzen für das geltende Jagdrecht und dessen Reform.

Urteil EGMR 1999

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte bereits 1999 fest, dass es weder mit dem Eigentumsrecht, noch mit dem Diskriminierungsverbot, noch mit der Vereinigungsfreiheit vereinbar ist, wenn Grundstückseigentümer dazu verpflichtet werden, einer Jagdgenossenschaft zwangsweise beizutreten und die Jagd auf ihren Grundstücken zu dulden, obwohl die Jagd ihrer eigenen Überzeugung widerspricht. Grundstückseigentümer, die ihre Fluren nicht bejagen lassen wollen, sollten sich daher schleunigst gegen dieses Unrecht zur Wehr setzen, indem sie bei der unteren Jagdbehörde einen Antrag auf Ruhen der Jagd stellen.

Situation in Europa

In den meisten Ländern der Europäischen Union gibt es keine Zwangsmitgliedschaften in Jagdgenossenschaften. Pars pro toto wären hier Belgien, Finnland, Dänemark, Niederlande, Frankreich, Großbritannien und Spanien zu nennen.